Dienstag, 16. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 3
Die Konzertagentur schreibt ihr vor, wo sie heute und morgen zu sein hat. Die entscheiden über ihr Leben. Damals, gleich nach ihrem ersten gewonnenen Wettbewerb hat ihr ehrgeiziger Vater diese Agentur über einen Freund engagiert. Man machte Bekanntschaften, knobelte Geschäftsbeziehungen und kleine Gefälligkeiten neben dem kalten Buffet oder einem Glas Wein aus. Zusammenkünfte, bei denen sie regelmäßig durch Abwesenheit glänzte. Nur während der Hausmusikzirkel durfte sie als Hauptattraktion nie fehlen. Sie war das Zirkuspferdchen, das Kunststücke am heimischen Flügel präsentierte. Damals hasste sie diese Treffen der Einflussreichen im elterlichen Haus und liebte es zugleich, Anerkennung in Form von Applaus zu bekommen. Die Konzertagentur war mittlerweile nicht mehr für sie als der verlängerte Arm der Eltern. Wo sie wann zu sein hat, wird ihr per Post übermittelt. Heute soll sie mit einem Orchester unter der Leitung eines unbekannten Dirigenten in Budapest spielen, wo sie zwei Tage bleiben würde. Dann übermorgen Rom, am darauffolgenden Tag heim, um den Koffer umzupacken und sich auf das Debüt in der Carnegie Hall vorzubereiten. All das wächst ihr langsam über den Kopf. Sie hasst es, fremdbestimmt zu sein. Viel lieber würde sie Luft schöpfen, ihren Gedanken nachhängen und in der ihr gewohnten Umgebung sein. Doch die Saat des Ehrgeizes ihrer Eltern scheint Früchte zu tragen. Sie will nicht ohne den Applaus sein, ohne die Anerkennung für ihre Entbehrungen und seelischen Qualen. Da ist etwas in ihr, das sie anzutreiben scheint, immer weiter zu gehen. Weiter und weiter, wie der Wanderer, der ihr aus Schuberts Werk so nah scheint.

Die Altstadt Budapests empfängt sie freundlich. Frühsommerliche Sonne erwärmt den Asphalt. Noch sind die Temperaturen erträglich. Sie erinnert sich an die Hitze des Spätsommers einer Klassenfahrt hierher. Die Blasen an ihren Füssen schmerzten, als sie von Laden zu Laden lief, um Klaviernoten aus den Archivaren aufzutreiben. Vieles wurde in der Zeit, als Budapest noch unter sozialistisch kommunistischem Regime stand, billiger verkauft, als sie es in Deutschland hätte erwerben können. Eines der damals erworbenen Schnäppchen war Bartóks Allegro barbaro. Dieses Kleinod, das ihr in den Stunden der Wut so ans Herz gewachsen war, würde sie heute Abend als Zugabe spielen. Nicht gerade kompatibel mit dem so erhabenen Mozart. Mozart sei leicht, verspielt und dennoch tragisch. Die Worte ihrer langjährigen Lehrerin während der Schulzeit klingen noch in ihrem Ohr. Bartók sei wild, zornig und ursprünglich. Diese Äusserung machte sie neugierig. Sie musste die Noten haben, den Text lernen, die Gefühle durch ihre Finger begreifen. Je öfter sie das Allegro spielte, umso mehr fühlte sie mit der Zeit die Kraft der Aussage in Klängen. Manchmal war sie so wütend auf ihre Eltern, dass sie in ihr Zimmer rannte, die Türe hinter sich zuknallte und mit der Faust auf die Klaviatur hämmerndihren Gefühlen freien Lauf ließ. Klänge wurden zum Befreiungsschlag gegen die elterliche Unterdrückung, jedes Fortissimo ein Aufschrei gegen empfundene Ungerechtigkeit. Obwohl all das lange her ist, spürt sie immer noch die Kraft, die in Bartóks Stück gebannt scheint. Manches Mal wünschte sie, einem Menschen zu begegnen, der die durch ihre Finger hervorgebrachten Aussagen deuten könnte.

Die Kettenbrücke verbindet Búda mit Pest. Alte Autokatalysatoren machen die Luft dort stickig. Sie steht eine Weile auf der Brücke und starrt auf das fließende Donauwasser. Was wäre, wenn sie einfach hinunterspringen würde? Ein durchaus reizvolles Gedankenspiel. Nein, tot wäre sie nicht, dazu braucht es mehr. Was wäre, wenn sie sich das Leben nehmen würde? Wer würde um sie trauern, wer sie vermissen? Natürlich wäre das eine Schande für die Eltern. Sie wären schockiert, wüssten nicht, was sie im Bekanntenkreis sagen sollten. Während sie diesen Gedanken nachhängt, erblickt sie ein Blatt, das auf der Wasseroberfläche dahinschwimmt. Nein, solche Gedanken will sie abschütteln wie der Wind das herbstliche Blatt am Baum. Viel zu sehr ist sie mit dem Leben verwachsen, mit den Tönen und mit dem Augenblick, der sie sich jeden Moment neu kreieren lässt. Sie ist in ihrem Innersten reich, ausgefüllt von Gedanken und Gefühlen, die sie jetzt der Welt zu präsentieren bereit ist. Diese Chance will sie sich nicht entgehen lassen. Während sie langsam das Trottoire neben dem Brückengeländer entlang schlendert, erklingen in ihrem inneren Ohr die ersten Takte des Mozartkonzertes. So oft hat sie sich die Aufnahme von Clara Haskil unter einem nicht namhaften Orchester mit einem noch viel unnamhafteren Dirigenten angehört. Diese Frau, die ihre wichtigsten Lebensjahre in einem Gipskorsett verbrachte, war eine ihrer heimlichen Heldinnen. Nur wenige Aufnahmen zeugen von ihrer schöpferischen Kraft. Dennoch gelangte sie posthum durch einen nach ihr benannten Klavierwettbewerb und einige wenige erhaltene Aufnahmen zu Weltruhm. Die Aufnahme des langsamen Satzes aus dem Mozartklavierkonzert KV 488 birgt so viel von diesem Leiden, von der trotzigen Zärtlichkeit der Interpretin, dass man sie kaum ohne davon berührt zu sein anhören kann. Genau dieses Erbe wird sie heute Abend in die Welt tragen. Wer es nicht begriffen hat, wird spätestens durch ihre heutige Interpretation begreifen, welche Dimensionen solch ein Werk zu eröffnen in der Lage ist. Mit diesen Gedanken im Schlepptau schreitet sie langsam ihrer derzeitigen Unterkunft entgegen. Langsam senkt sich die Abenddämmerung über die Stadt. Hier will sie nicht bleiben, lieber einen Tag früher abreisen, lieber bei sich sein. Noch bevor sie den Konzertsaal betritt, wird sie auch von dieser Stadt Abschied genommen haben.

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Viel Talent und doch viel Verloren. Durch fremden Ergeiz zerstört und doch so sehr an den Tönen und Noten hängend. Man kann nur hoffen das sie es schafft sich die Musik zu erhalten und ihre Selbstbestimmung zu bekommen.

Sehr schöne Geschichte, warte gespannt auf die Fortsetzung.

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Gefesselt, von Anbeginn !

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Ich fürchte nur, das klingt alles sehr pilcherlastig. Zuviel Kitsch? Zu viele Klischees?
Konkrete Kritik und Meinungen ausdrücklich erbeten.

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Nein, nix Rosamunde. Nur ein Zwischenruf, die Reise ist doch nicht zu Ende? Klischees sind übrigens fast immer wahr.

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Nö, geht noch 27 Tage (wird bald eh keinen mehr interessieren). Klischees sind manchmal wahr aber man muss ja nicht drauf rumreiten ;o)

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