Mittwoch, 17. Mai 2006
Ils n´ont pas d´idée
Vieil océan,
ta forme harmonieusement sphérique,
qui réjouit la face grave
de la géométrie,
ne me rappelle que trop les petits yeux de
l'homme, pareils à
ceux du sanglier pour la petitesse, et à
ceux des oiseaux de nuit pour la perfection
circulaire du contour. Cependant,
I'homme s'est cru beau dans tous les siècles.
Moi, je suppose plutôt
que l'homme ne croit à sa beauté
que par amour-propre; mais,
qu'il n'est pas beau réellement et qu'il s'en doute;
car, pourquoi regarde-t-il la figure
de son semblable, avec tant de mépris ?
Je te salue, vieil océan!


Les chants de Maldoror, Lautréamont

Kann jemand, der sich so viele Gedanken um das Wesen des Menschseins macht, die Menschen verachten? Spätpubertäre Ergüsse, übersteigerte Pathetik? Noch bin ich zu keiner endgültigen Meinung über die Gesänge des Maldoror und ihren Verfasser gelangt.

Zum ersten Mal kam ich mit diesem Buch während meines Studiums in Berührung. Da war dieser Gitarrenstudent, merkwürdig verhalten, ein wenig verwahrlost, schwarze Ränder unter den Nägeln, die Haare strähnig im Gesicht, redete nie viel, doch wenn er etwas sagte, machten mich seine Worte neugierig. Wir belegten ähnliche Seminare, trafen uns gelegentlich in der Mensa und plauderten ein wenig. Dann verlor ich ihn wieder aus den Augen.

Einige Zeit später half er mir, den Zeichentrickfilm eines Freundes zu vertonen. Er hatte das volle Vertrauen des Fachdozenten, mit dem ich telefoniert hatte, und somit einen Schlüssel zum Tonstudio für elektronische Musik. Wir arbeiteten drei Tage an einer Tonspur von drei Minuten. Als der Film endlich fertig war, wollte ich ihn gemeinsam mit ihm ansehen. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Ich fragte bei seinem Professor nach, doch der wusste von nichts. Er habe ihn ebenfalls schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Ich bat ihn um eine Telefonnummer, die er mir gab. Als ich dort anrief, nahm er irgendwann nach langem Läuten den Hörer ab. Wir plauderten eine Weile und verabredeten uns für den kommenden Tag. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl. Am nächsten Tag sollte er mit der S-Bahn kommen. Ich würde ihn am Bahnsteig abholen. Die S-Bahn kam ohne ihn. Auch in der nächsten saß er nicht. In der Prähandyära fuhr ich nach Hause, um bei ihm anzurufen. Er behauptete, die Bahn verpasst zu haben. Ich schlug die nächste S-Bahn vor, mit der Ahnung, dass er auch die nicht nehmen würde. Am Bahnsteig wurde die Ahnung zur Gewissheit. Ich rief wieder an, ergebnislos. Einige Stunden später nahm er den Hörer ab. Alles was ich sagte war: "Ich komme jetzt vorbei. Wage es nicht, mir die Türe nicht zu öffnen!" Dann fuhr ich los. Es war bereits später Abend. Er öffnete tatsächlich. In seinem Zimmer wüstes Durcheinander, auf dem Plattenteller drehte Joni Mitchell vor sich hin. Er saß auf dem Boden, vor ihm das Buch. Ob ich es kenne? Ich verneinte. Das Buch sei so etwas wie seine persönliche Bibel. Wenn ich ihn verstehen wolle, müsse ich es lesen. Dann las er mir die achte Strophe des ersten Gesanges vollständig vor. Alles was ich begriff, war, dass ich ihn da rausholen musste. Ich schnappte meine Sachen, befahl ihm, sich anzuziehen und mir zu folgen. Wir fuhren los.
Ich schlief auf dem Boden. Meine Schlafcouch überließ ich ihm. Am nächsten Morgen saß er auf dem Boden in Zimmermitte, genau wie ich ihn am Vorabend in seinem Zimmer vorgefunden hatte. Er zitterte stark. Das machte mir Angst. Ich schrie ihn an, er solle zu zittern aufhören. Meine Erbarmungslosigkeit verfehlte nicht ihre Wirkung. Die Flasche Martini aus meinem Kühlschrank, die dort seit einem halben Jahr unberührt gestanden hatte, war genauso leer wie mein Geldbeutel. Letzteres bemerkte ich erst später. Ich fuhr ihn heim und sagte ihm, er könne mich jederzeit anrufen.

Es verging einige Zeit, bis ich ihn wiedersah. Sein Prof erzählte mir, er sei in einer psychiatrischen Klinik. Er sagte noch etwas von sehr intelligent, fast schon genial und deswegen nicht lebensfähig. Begriffen habe ich erst viel später was er damit meinte. In der Klinik besuchte ich ihn. Wir redeten ein wenig. Als ich ging, war das ein Abschied für immer.

Jedes Mal, wenn mir die Maldororgesänge in die Hände fallen, muss ich an diesen komischen Kerl denken. Was macht Menschen so kaputt? Sind es die Umstände/Umwelt oder die Unfähigkeit, für die Umstände Verantwortung zu übernehmen und sie zu beeinflussen?

Erster Gesang, vierte Strophe:

Es gibt Leute, die schreiben, um durch edle Eigenschaften des Herzens, die sie erfinden oder auch wirklich haben, menschlichen Beifall zu suchen. Mir aber dient mein Genie, die Wonnen der Grausamkeit zu schildern! Keine vergänglichen, gekünstelten Wonnen, sondern solche, die mit dem Menschen begonnen haben und die mit ihm enden. Kann sich gemäß der geheimen Beschlüsse der Vorsehung nicht das Genie der Grausamkeit verbinden? oder kann man nicht Genie haben, weil man grausam ist? Den Beweis wird man in meinen Worten finden; es steht euch frei, mir zu lauschen, wenn ihr wollt … Pardon, mir schien, als hätten sich auf meinem Kopf die Haare gesträubt; aber das hat nichts zu sagen, denn es ist mir sehr leicht gelungen, sie mit der Hand in ihre vorherige Lage zurückzubringen. Er, der hier singt, behauptet nicht, daß seine Kavatinen etwas Unbekanntes seien; im Gegenteil, er ist es zufrieden, daß die vermessenen und bösen Gedanken seines Helden in allen Menschen sind.

von hier

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Ein Traktat, keine Bibel
Ein interessantes Werk, immens einflußreich, aber auch eins, daß man mit einem gehörigen Schuß Abstand und Ironie genießen und nicht zur Bibel verklären sollte. Das ist überhaupt das Problem mit vielen dieser "dunklen Werke". Das Konzept der romantischen Ironie ist den nachgeborenen Jüngern der Schwarzromantiker ja meist völlig abhanden gekommen. Erstarrter Fanatismus und Anbetung der Asche, statt Weitergabe der Flamme - um das bekannnte Zitat mal beizubringen.

Als das Buch in mein Leben gedrängt wurde, habe ich nicht unähnliche Erfahrungen gemacht wie Sie. Habe ich früher mal drüber geschrieben, ist zum Glück vorbei.

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Mich haben die Texte damals gewaltig beeindruckt. Die Bilder sind ziemlich wuchtig. Selbst heute noch finde ich es beachtlich. Immerhin, ein 23(?)Jähriger, der so einen Hammer präsentiert. Dann wiederum finde ich es viel zu pathetisch, stellenweise konstruierter Gefühlsausbruch. Sicher ein Wegbereiter der Surrealisten aber nicht der wichtigste.
Ich wusste nicht, dass dieses Werk heute noch irgendeiner Gruppierung dazu dient, sich in ihrem Selbstmitleid zu feiern.

Haben Sie einen Link zu Ihrem Text? Mercy Seats?

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Unter anderem da auch. The Mitleid Selbst, sozusagen. Mir sind die Texte irgendwie "zu eng". Starke Bilder, großes Pathos, aber nichts, was mich beeindruckt hätte. Ich war allerdings auch schon älter, vielleicht zynischer, als ich es las. Da war ich schon vom mitreißenden Rimbaud verwöhnt und ansonsten von den modernen Tiraden einer Lydia Lunch. Vielleicht hatte ich das Pferd vom falschen Ende aufgezäumt, aber so richtig neu war die Welt des Maldoror dann nicht mehr. Es kam einem alles ein wenig bekannt vor.

Erschreckend fand ich nur die "Anbetung" in manchen Kreisen. Auch das: zu eng, zu ehrerbietend. Das wiederum spricht allerdings weniger gegen das Buch als gegen die Auswahl meiner Kontakte. Letzten Endes: gegen mich.

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Nicht so streng mit sich sein, Herr Kid!
Ich komme immer mehr zur Überzeugung, dass man durch gewisse Charaktereigenschaften (Stärke in Kombination mit Tiefgründigkeit und einer gewissen Stabilität) durchaus magnetisch auf labile, ängstliche Menschen wirken kann. Nicht umsonst heißt es, man sucht sich das, was man gerne selbst in sich trüge (vice versa?).

Für mich war dieses Buch ein Anfang, der mich zu Baudelaire, Rimbaud und letztlich René Char führte. Im Alter kehrt man halt gerne zu den Jugenderinnerungen zurück.

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Labile, ängstliche Menschen wie ich sollten jedenfalls besser selektieren - was sie lesen, was sie ertragen. Die Bücher können nichts für ihre Leser, die Musik kann nichts für ihre Hörer. Nur scheinen die dunklen, tiefgründig und hermetischen Werke die kultische Verehrung besonders stark anzuziehen. Kultische Verehrung aber und innere Freiheit schließen sich weitgehend aus, denke ich.

(Und Nachtbloggen und Schlafen auch, stelle ich wieder einmal fest.)

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Jetzt kokettiert er wieder, der Herr Kid.

(Bloggen statt schlafen. Mein derzeitiges Programm)

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