Samstag, 22. Februar 2020
Tageblog 22.2.2020
frau klugscheisser, 12:59h
Irgendwie war der gestrige Tag kürzer als andere, obwohl ich nicht viel mehr gemacht habe. Das Phänomen heißt keine Zeit haben und zieht sich durch alle Bevölkerungs- und Altersschichten. Beschäftigt zu sein ist sozial anerkannt und verhindert gleichzeitig, sich Gedanken machen zu müssen - Gedanken, die sich einem aufdrängen über Sachen, die im Bauch rumoren oder die eigentlich überhaupt keinen Sinn ergeben. Mein derzeitiger Job ist Gesund werden. An diesem Projekt arbeite ich jetzt schon eine ganze Weile. Es beinhaltet viel schlafen, regelmäßig essen, ein bisschen Yoga und Physiotherapie. Zudem betreibe ich Sozialtherapie, also Befreundete treffen, auf Parties gehen und mit Unbekannten reden, soziale Kontakte herstellen, sowas in der Art.
Gestern machte ich auf dem Heimweg vom Physiomann noch einen kleinen Abstecher in ein Kaufhaus. Ich brauchte dringend eine kleine Tasche für den Club. Sie wissen schon, für wenn die Kleidung mal wieder keine hat und man aber vor allem Taschentücher und Geld irgendwo unterkriegen muss. Auf meinem Weg durch diverse Stockwerke blieb mein Blick in der Damenwäscheabteilung an einem Tisch mit einer verzierten Augenmaske und einem Halsschmuck hängen, der sehr einem Halsband mit Leine ähnelte. "Ich mach Ihnen das gerne auf." Eine ältliche* Verkäuferin näherte sich mir von der Seite. Nein, das Halsband wollte ich nicht sehen, drückte aber meine Verwunderung darüber aus, dass dieses Accessoire in einem biederen Kaufhaus auf dem Wäschetisch angeboten wird, wo es doch eigentlich für Unterwerfung und in ganz anderem Kontext steht. Sie schaute mich eine Weile wortlos an, meinte dann aber, dieser Artikel würde sehr viel gekauft und die meisten Leute wüssten sicher nicht, was es zu bedeuten hätte. Ja, da waren sie wieder, die 50 Schatten von grau, die popularisierte Form von BDSM, die zur Schonkost verarbeitete Variante für den empfindlichen Durchschnittsbevölkerungsdarm.
Ich erklärte der Verkäuferin kurz, dass mich nicht der Artikel, sondern vielmehr die Tatsache irritiere, dass sowas in diesem Laden zu erwerben sei, denn - seien wir mal ehrlich - die Auskenner kaufen nicht bei Karstadt, die gehen in spezielle Boutiquen oder bedienen sich des einschlägigen Internetangebots. Dann wurde mir schlagartig bewusst, dass ich die Dame aufgrund von Äusserlichkeiten einschätzte, jedoch nichts über sie weiß. Wie kann ich wissen, welche Vorlieben sie hat und in welchen Kreisen sie sich bewegt? Sie reagierte erstaunlich gefasst und professionell, wir lachten noch kurz miteinander, dann verabschiedete ich mich und fuhr nachdenklich die Rolltreppe zum Ausgang hinunter.
Die geneigte Leserschaft mag sich jetzt wundern, welche Quelle mein Wissen hat. Besagten Film - die Romanvorlage eingeschlossen - habe ich nicht konsumiert, doch als eine damalige Mitseglerin auf unserer Ozeanüberfahrt von der Lektüre berichtete, machten die anderen sich über die beschriebenen Praktiken einerseits lustig, andererseits war ein gewisser Ekel herauszuhören. Ich blieb stumm, denn damals war das alles für mich bestenfalls fremd, ich konnte mir aber zu diesem Gebiet noch keine Meinung bilden. Im Grunde finde ich - gegenseitiges Einvernehmen vorausgesetzt - soll jede/r das tun, was ihn oder sie glücklich macht. Ich würde auch Fußballbegeisterung nicht abwerten, nur weil ich nichts von Fußball verstehe. Und alles was ich nicht verstehe, macht mich grundsätzlich neugierig. Als ich mich beispielsweise im Studium mit Zwölftonmusik auseinandersetzen musste, lernte ich sie nicht nur zu verstehen, sondern auch mit anderen Ohren zu hören und zu respektieren. Das bedeutet aber nicht, dass ich sie mag. Die Begeisterung von Menschen ist es, die mich fasziniert. Wenn ein Mensch für eine Sache brennt und davon berichtet, ist mir völlig egal, ob es sich dabei um Musik oder Makramee handelt. Ich lasse mich auf Gedankengänge ein, wie ich auch in Filmen oder Büchern die Gedankenwelt der Protagonisten interessiert verfolge. Auf diese Weise hat jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen.
Meine Neugier war nun geweckt und ich stürzte mich letztes Jahr in die Szene der BDSM und Swingerclubs. Dabei entdeckte ich viele eigene sowie fremde Vorurteile, die sich auf Beobachtungen von Einzelfällen oder reinen Annahmen stützten. Ein wunderbares Lehrstück war für mich die stille Annahme, dass BDSM immer mit Schmerzen verbunden sei und Unterwerfung mit Verachtung oder gar Mangel an Respekt. Nur soviel vorweg: dem ist nicht so. Ich weiß heute auch, dass die Menschen in dieser Szene weitaus entspannter und toleranter sind, als die, die sich gemeinhin über derartige Praktiken echauffieren. Und ich weiß, dass meine Neugier Grenzen hat, denn ich muss nicht alles ausprobieren, um mit Sicherheit zu behaupten, dass es mir nicht gefällt. Davon aber ein andermal.
*ältlich = für mich altersmäßig nicht einzuschätzen, da aufgrund des konservativen Kleidungsstils und Habitus älter als ihr biologisches Alter wirkend.
***********
Von der Vergänglichkeit
Gestern machte ich auf dem Heimweg vom Physiomann noch einen kleinen Abstecher in ein Kaufhaus. Ich brauchte dringend eine kleine Tasche für den Club. Sie wissen schon, für wenn die Kleidung mal wieder keine hat und man aber vor allem Taschentücher und Geld irgendwo unterkriegen muss. Auf meinem Weg durch diverse Stockwerke blieb mein Blick in der Damenwäscheabteilung an einem Tisch mit einer verzierten Augenmaske und einem Halsschmuck hängen, der sehr einem Halsband mit Leine ähnelte. "Ich mach Ihnen das gerne auf." Eine ältliche* Verkäuferin näherte sich mir von der Seite. Nein, das Halsband wollte ich nicht sehen, drückte aber meine Verwunderung darüber aus, dass dieses Accessoire in einem biederen Kaufhaus auf dem Wäschetisch angeboten wird, wo es doch eigentlich für Unterwerfung und in ganz anderem Kontext steht. Sie schaute mich eine Weile wortlos an, meinte dann aber, dieser Artikel würde sehr viel gekauft und die meisten Leute wüssten sicher nicht, was es zu bedeuten hätte. Ja, da waren sie wieder, die 50 Schatten von grau, die popularisierte Form von BDSM, die zur Schonkost verarbeitete Variante für den empfindlichen Durchschnittsbevölkerungsdarm.
Ich erklärte der Verkäuferin kurz, dass mich nicht der Artikel, sondern vielmehr die Tatsache irritiere, dass sowas in diesem Laden zu erwerben sei, denn - seien wir mal ehrlich - die Auskenner kaufen nicht bei Karstadt, die gehen in spezielle Boutiquen oder bedienen sich des einschlägigen Internetangebots. Dann wurde mir schlagartig bewusst, dass ich die Dame aufgrund von Äusserlichkeiten einschätzte, jedoch nichts über sie weiß. Wie kann ich wissen, welche Vorlieben sie hat und in welchen Kreisen sie sich bewegt? Sie reagierte erstaunlich gefasst und professionell, wir lachten noch kurz miteinander, dann verabschiedete ich mich und fuhr nachdenklich die Rolltreppe zum Ausgang hinunter.
Die geneigte Leserschaft mag sich jetzt wundern, welche Quelle mein Wissen hat. Besagten Film - die Romanvorlage eingeschlossen - habe ich nicht konsumiert, doch als eine damalige Mitseglerin auf unserer Ozeanüberfahrt von der Lektüre berichtete, machten die anderen sich über die beschriebenen Praktiken einerseits lustig, andererseits war ein gewisser Ekel herauszuhören. Ich blieb stumm, denn damals war das alles für mich bestenfalls fremd, ich konnte mir aber zu diesem Gebiet noch keine Meinung bilden. Im Grunde finde ich - gegenseitiges Einvernehmen vorausgesetzt - soll jede/r das tun, was ihn oder sie glücklich macht. Ich würde auch Fußballbegeisterung nicht abwerten, nur weil ich nichts von Fußball verstehe. Und alles was ich nicht verstehe, macht mich grundsätzlich neugierig. Als ich mich beispielsweise im Studium mit Zwölftonmusik auseinandersetzen musste, lernte ich sie nicht nur zu verstehen, sondern auch mit anderen Ohren zu hören und zu respektieren. Das bedeutet aber nicht, dass ich sie mag. Die Begeisterung von Menschen ist es, die mich fasziniert. Wenn ein Mensch für eine Sache brennt und davon berichtet, ist mir völlig egal, ob es sich dabei um Musik oder Makramee handelt. Ich lasse mich auf Gedankengänge ein, wie ich auch in Filmen oder Büchern die Gedankenwelt der Protagonisten interessiert verfolge. Auf diese Weise hat jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen.
Meine Neugier war nun geweckt und ich stürzte mich letztes Jahr in die Szene der BDSM und Swingerclubs. Dabei entdeckte ich viele eigene sowie fremde Vorurteile, die sich auf Beobachtungen von Einzelfällen oder reinen Annahmen stützten. Ein wunderbares Lehrstück war für mich die stille Annahme, dass BDSM immer mit Schmerzen verbunden sei und Unterwerfung mit Verachtung oder gar Mangel an Respekt. Nur soviel vorweg: dem ist nicht so. Ich weiß heute auch, dass die Menschen in dieser Szene weitaus entspannter und toleranter sind, als die, die sich gemeinhin über derartige Praktiken echauffieren. Und ich weiß, dass meine Neugier Grenzen hat, denn ich muss nicht alles ausprobieren, um mit Sicherheit zu behaupten, dass es mir nicht gefällt. Davon aber ein andermal.
*ältlich = für mich altersmäßig nicht einzuschätzen, da aufgrund des konservativen Kleidungsstils und Habitus älter als ihr biologisches Alter wirkend.
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Von der Vergänglichkeit
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gaga,
22. Februar 2020, 14:42
Niedlich, wie du (absolut) korrekt "ältlich" erläuterst, bzw. meinst, erläutern zu müssen. Dass nun wieder Party-Täschchen-Shopping auf dem Programm steht, begrüße ich über alle Maßen!
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frau klugscheisser,
22. Februar 2020, 21:03
Ältlich wird ja verschieden benutzt. Ich dachte, da muss ich erläutern. Das Partytäschchen hatte gestern seinen ersten Einsatz. Yeah! Was machen die falschen Wimpern?
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gaga,
23. Februar 2020, 03:01
Mein Wimpern-Potpourri hat eine eigene Schublade in meinem kleinen Schminkkästchen. Dort warten die tollen Modelle auf den nächsten Einsatz. Denkbar wäre zum Beispiel der Besuch von Fr. Klugscheißer in Berlin, wo wir uns gemeinsam aus meinem Sortiment bedienen könnten und premium-mäßig aufgetranst eine Wimpern-Fetisch-Party besuchen könnten! ;-)
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frau klugscheisser,
23. Februar 2020, 04:44
Bitches on tour
Prima Vorschlag. Ich glaube, es gibt in Berlin auch noch so richtig schräge Clubs. Wir müssten dann natürlich erst diese tolle Location im 50er Stil besuchen. Und dann vielleicht so eine Raverparty und am Ende muss ich dringend mal sehen, was im Kittycatclub abläuft. Das Programm ist aber nicht in einen einzigen Abend zu packen. Viellleicht komme ich im April, denn da hätte ich Urlaub. Vorher aber werde ich meinen Lidstrich üben und perfektionieren. Mit Wimpern allein ist es doch nicht getan.
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gaga,
23. Februar 2020, 16:53
der 50er Jahre Club ist da nicht die erste Wahl, weil die Outfits nicht entsprechend am Start sind. Wir müssen ins Hobby! ("Bar zum schmutzigen Hobby"). Kitkat-Club ist die andere Fetisch-Ecke, ich hab keine Lust, mich beim Tanzen oben ohne zu präsentieren! Es sei denn, du leihst mir ein Lack und Leder-Oberteil. Aber da sind ja immer diese Hetero-Neanderthaler, die gar nicht richtig tanzen können! Wir können aber mal ins Insomnia, geht auch in die von dir unlängst erforschte Liga, etwas pompöseres Interieur.
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frau klugscheisser,
23. Februar 2020, 21:35
Klingt nach 'nem Plan. L&L Oberteil hab' ich nur eines und das ist ein Korsett. Aber ein Kleid könnte ich anbieten, das hat allerdings einen seeehr großen Ausschnitt. Ich sah unlängst, dass auch weiße hochgeschlossene Bluse geht, wenn man die Haare streng hochsteckt. Dann hat man aber automatisch auch einen Erziehungsauftrag bei den Hetero-Neanderthalern.
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gaga,
24. Februar 2020, 00:36
ich gebe aufreizendem Tanzvergnügen den Vorzug vor aufreizendem Styling! Die Szene ist mir geläufig, ist aber nicht so meine Baustelle.
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kid37,
22. Februar 2020, 15:51
Ich bin ja immer wieder fasziniert von ihrer furchtlosen Entschlossenheit beim Felderforschen neuer Themengebiete. Also z.B. der Einkaufssituation bei Karstadt.
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frau klugscheisser,
22. Februar 2020, 21:04
Ja, in der Feldforschung bin ich sehr bemüht. Da muss man auch mal über seinen Schatten springen. Ich beneide Dich zudem für Deine Kassiererin. Man braucht Konstanten im Leben.
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jawl,
23. Februar 2020, 08:32
Ich habe ja die Theorie, dass viele „Subkulturen“ deutlich entspannter sind als die sub-lose Masse – und vor allem als die herabschauende Masse. Ob es die Metalheads in Wacken sind, die hinter ihrer wilden Fassade zu großen Teilen die reinsten Herzen aus Gold verstecken oder die von Ihnen angesprochene Szene. Denn ich glaube, dass man sich schon erst ziemlich reflektieren muss, um überhaupt in einer solchen Szene zu landen – bzw während man in ihr landet. Schaut man sich mal die gängigen BDSM-Blogs an, geht es doch zu 90% um Philosophie und Überbau und wenig um Praktiken
Naja, und Vorurteile und Tabuisierung mache ja eh verkrampft …
Naja, und Vorurteile und Tabuisierung mache ja eh verkrampft …
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frau klugscheisser,
23. Februar 2020, 11:54
Mit der Einschätzung bin ich ganz bei Dir. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und behaupte, dass es mit dem Ausleben der 'dunklen' Seiten zu tun hat. Die meisten Menschen haben irgendwelche Gelüste, die sie sich nicht erlauben oder die in der Gesellschaft so verteufelt sind, dass sich da ein blinder Fleck bildet. Im Übrigen haben Kirche und Staat (vor allem vor der Trennung) den Umgang mit Sexualität schon immer als Machtmittel missbraucht. Ein Volk kann mit dieser Art Reglementierung in Schach gehalten werden.
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