Mittwoch, 17. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 4
Das Konzert war überraschend gut. Sie hatte das Orchester unterschätzt. Noch kurz nach der Generalprobe im Saal der Ferenc Liszt Hochschule für Musik hätte sie nicht für möglich gehalten, dass der Abend so gut laufen würde. Tempounstimmigkeiten, Intonationsschwierigkeiten in den Bläsergruppen und schwammige Streicher, die der Dirigent jedoch mit seinem Einfühlungsvermögen in die Solostimme überwand und zu einer Einheit zwang. Der neue Tag begann grau. Die Wolken würden heute den ganzen Tag am ungarischen Himmel hängen. Sie war schon morgens abgereist, um einen kostbaren Tag in ihren eigenen vier Wänden zu verbringen. Morgen würde sie nach New York fliegen. Sie brauchte einen Tag, um sich zu sammeln, Gedanken zu sortieren und auch die Schmutzwäsche. Während des Auspackens schweift sie ab. Der junge Kunststudent von damals war nur der Beginn einer inneren Reise zu sich selbst. Sie lernte viele andere Künstler kennen, Musiker, Dirigenten, Professoren aber auch Schreiber und Tänzer. Alle hatten sie eines gemeinsam. Da war diese tiefe Sehnsucht nach Verständnis, nach Heimat, nach Sicherheit und gleichzeitig eine starke Furcht vor Verletzung des so weichen Innersten. Die den Kreativen eigene und notwendige Sensibilität wird erst gehätschelt, dann versteckt und verbarrikadiert. Alle bauen sie dicke Mauern aus Steinen der Intellektualität, Überheblichkeit und Unnahbarkeit um ihre Herzen. Dabei suchen sie alle verzweifelt nach dem Gegenüber, der diese Mauern einzureißen oder wenigstens zu umgehen in der Lage war. Gleichzeitig getrieben von an Selbstzerstörung grenzender Disziplin, entwickeln sie eine Selbstverachtung, die ein Öffnen scheinbar unmöglich machen. Man will die dunklen Stellen vertuschen. Keiner soll sie zu sehen bekommen, außer man selbst. Wie sollte eine Begegnung der Seelen da noch möglich sein? Das Dilemma schien unausweichlich, die Spiralen von eigenem Unvermögen und Sehnsucht begannen sich wie ein Perpetuum mobile zu drehen.

Auch sie spürt diesen Streit in sich. Herz gegen Kopf, Verstand gegen Gefühl, Mensch gegen Seele, es geht nicht mit aber auch nicht ohne einander. Manchmal, wenn das Gefühl zu übermächtig wurde, wenn es sie in Stücke zu reißen drohte, setzte sie sich an ihr Instrument, um der Wut und Trauer Ausdruck zu verleihen. In solchen Momenten spielt sie Bártòk, Schubert oder Brahms, manchmal hämmert sie auch nur unkoordiniert mit den Fingern oder der ganzen Faust auf die Tasten ein. Doch Bártòk, Schubert und Brahms sind lange tot. Sie können nichts gegen diese überwältigenden Emotionen ausrichten. Dieser schwarze Kasten mit den vielen Saiten, an dem sie so viel Zeit verbrachte, ist ihr Sprachrohr und ihr Hassobjekt zugleich. Wie soll sie mit etwas Frieden schließen, das sie um so viel betrogen hat? Manchmal wünschte sie, als eine andere geboren zu sein. Sie stellt sich vor, Tag für Tag in einem Büro zu sitzen, den Gesprächen der Kollegen zu lauschen und unwichtige administrative Aufgaben zu erledigen. Die Pausen wären gewerkschaftlich geregelt, ebenso der Urlaubsanspruch. Sie hätte vielleicht eine Familie, ein, zwei Kinder und einen Mann, mit dem sie sich nachts um die Bettdecke streiten würde. Der Schuh gleitet aus ihrer Hand und fällt mit lautem Gepolter auf das Parkett. Das Geräusch reißt sie aus ihrem Tagtraum. Ihr langes Haar verdeckt die Augen, als sie den Kopf energisch zur Seite dreht, um die Gedanken abzuschütteln. Was nützt es, sich in ein was-wäre-wenn Spiel einzulassen, wo doch alles ganz anders ist. Die Zukunft sieht verheißungsvoll aus. Wer weiß, an welche Orte die sie bringen, wen sie treffen und welcher neue Eindruck sie berühren wird. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil ihres Lebens besteht darin, mit immer neuen Situationen konfrontiert zu sein. Sie ist neugierig auf das Leben, ja verlangt gar mehr von ihm. Durchschnittlichkeit ist ihr verhasst, genau wie der gleichmäßige Strom, in dem die Menschen neben ihr zu schwimmen scheinen. Sie will mehr, will alles.

Morgen Vormittag wird sie in die Maschine nach New York steigen. Eine ihr fremde Welt wartet da draußen. Die Carnegie Hall als Beginn einer internationalen Karriere. Während sie durch die Post blättert spielt Martha Argerich im Hintergrund Schumanns Fantasie op.17. Man sagt der Argerich nach, sie hätte mit all ihren Kammermusikpartnern geschlafen. Keiner - außer sie selbst - weiß, ob das der Wahrheit entspricht. Höchst wahrscheinlich schwingt bei den Verbreitern solcher Geschichten verletzte Eitelkeit oder im weiblichen Fall eine gehörige Portion Neid mit. Sie wäre gerne ein wenig wie Martha. Wild, leidenschaftlich und gleichzeitig berechnend und abweisend. Das zieht Männer an. Es weckt ihren Jagdinstinkt. Aber auch Martha wird einsame Nächte in tristen Hotelzimmern fremder Städte erleben. Im Grunde ist keiner aus ihrem Metier zu beneiden. In den Köpfen derer, die keine Ahnung davon haben, wie es ist, werden Klischees gezüchtet. Nicht immer decken sie sich mit der ernüchternden Wirklichkeit. Mit diesem Gedanken schließt sie das Fenster. Draußen beginnt es zu regnen. Nach einem langen Winter in Süddeutschland endlich einmal wieder Temperaturen, die den Asphalt im Regen riechbar machen. Das Neue hat gerade erst begonnen. Sie muss nur abwarten und die Augen offen halten.

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