Mittwoch, 24. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 9
„Brahms also“ sagt sie gedankenverloren, während sie die Noten auf der Ablage zurechtrückt. „Muss nicht sein“ er steht direkt hinter ihr, während er die Worte formuliert, die mehr sagen als der Inhalt vermuten lässt. Seine Hände liegen auf ihren Schultern. Im Rücken spürt sie den Reißverschluss seiner Hose und die dahinter verborgene Männlichkeit. Ihr Kopf kippt kurz nach hinten gegen seinen Bauch, der Hals will sich in seine Hände schmiegen. Dann richtet sie sich mit einem Ruck auf. „Komm schon, nimm dein verdammtes Instrument zwischen die Beine!“ Sie ist wütend auf ihre momentane Schwäche, will die für die Musik aufbewahren, zielgerichtet arbeiten. Dafür ist sie hier, nicht für Plänkeleien. Er setzt sich auf den Stuhl in der Mulde des Flügels, nimmt den Bogen mit der rechten Hand vom Instrument und beginnt ihn zu spannen. „Willst du weiter rumzicken oder können wir wie Erwachsene miteinander umgehen?“ Er wagt es, von Erwachsensein zu sprechen. Er, der nie bereit war, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und stattdessen sein Leben lang spielen wird. Ihr Magen beginnt sich zusammenzuballen. „Erste Sonate, Beginn dritter Satz“ bellt sie knapp in seine Richtung. Ihre Finger schleudern ihm die Eingangsakkorde des Fugatos entgegen. Sein Einsatz verstreicht ungehört. „Das ist nicht mein Tempo. Nimm den Anfang ein wenig langsamer“. Sie beginnt von Neuem, diesmal in einem etwas langsameren Tempo. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, sich auf das Wesentliche konzentrieren. Nicht sie ist wichtig, sondern die Musik. Früher, als sie noch regelmäßig miteinander musizierten, wusste sie in jedem Augenblick, was in ihm vorging. Die Art wie er einatmete, wie er sich bewegte, zeigten ihr, was als nächstes kommen würde. Über Phrasierungen und Tempo brauchten sie nicht zu sprechen. Später waren genau das die unüberwindbaren Hindernisse, die sie getrennte musikalische Wege gehen ließen. Sie war nicht mehr bereit, seine Vorstellungen ungesehen zu teilen, weil sie eigene hatte. Die Proben wurden damals zur Qual. Endlosdiskussionen über Tempi, die Absicht des Komponisten und diverse Dynamikabstufungen machten sie mürbe. Sie wusste viel mehr über die Beschaffenheit der Musik als jeder Melodieinstrumentalist, der nur seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen schien. Sie hatte ihre Gefühle im Griff, lenkte sie in die vom Wissen freigegebenen Bahnen und war überzeugt von ihrem Tun. Das letztlich schlagende Argument war die Genialität seines Spiels. Wie konnte dieser Mann mit dieser Art zu denken so unglaublich berührend spielen? Als sie diesen inneren Konflikt nicht mehr ertrug, ging sie. In diesem Augenblick war er wieder präsent. Sie weiß genau, was er von ihr denkt. Nein, sie ist keine trockene Analytikerin, sie kann ebenso wie er Töne zum Leben erwecken, kann genießen und Bereiche der Seele zum Klingen bringen, die nicht mit Worten auszudrücken sind. Um ihm und sich dies zu beweisen war sie hier. Langsam beginnt die Musik zwischen ihnen zu fließen, erst langsam wie ein Zwiegespräch, dann mehr und mehr gleichzeitig, bis sie wieder zu der Einheit werden, die sie in der Nacht in New York für einige Sekunden waren. Langsam beginnt sie weich zu werden, doch diesmal kann sie es zulassen. Der Abstand zur Flügelmulde ist groß genug.


Es ist bereits dunkel, als sie den Probensaal verlassen. Sie fühlt sich erschöpft und leer. Morgen wird das erste Konzert im Gould Theater stattfinden. Die Vorraussetzungen sind gut. Das weiß sie seit den vergangenen drei Stunden. Während er ein Taxi ruft, schaut sie in den Himmel. Noch kann man einige Sterne sehen. „Lass uns zum Telegraph Hill fahren, ja?“ Seine Augen blicken sie überrascht an. „Wollen wir nicht essen?“, sagt er nach kurzem Zögern „hinterher können wir immer noch überlegen“. Hinterher wird sie nicht mehr die sein, die sie sich zu sein vorgenommen hat. Die Probe hat die Distanz zwischen ihnen schmelzen lassen. Das alte Gefühl ist wieder da. Während sie in den Wagen steigt, versucht sie sich an ihre Vorsätze zu erinnern. Alle Vernunft scheint wie Wolken weggeblasen. Bei diesem Gedanken seufzt sie unmerklich. Dann schmiegt sie sich auf dem Rücksitz in seinen Arm. Ein zärtlicher Kuss auf dem Ohr lässt sie auch den letzten Zweifel verdrängen. Morgen wird sie wieder die Starke sein, die Unnahbare, die nicht mit sich umspringen lässt. Dafür ist noch morgen Zeit. Heute mag sie nicht mehr kämpfen. Seine Finger gleiten durch ihr Haar, spielen mit einer einzelnen Strähne. Seine Lippen beginnen eine sanfte Reise von ihrem Hals zu ihrem Mund, werden drängender, bis sie die ihren zum Nachgeben fordern. Dabei streicht seine Hand über ihren Hals, das Schlüsselbein hinunter und stoppt auf ihrer Brust. „Nicht hier. Wir sind gleich im Hotel“ flüstert sie. Seine Hand will nicht ablassen, genauso wenig wie sein Mund, der sich jetzt in die Mulde am unteren Ende des Halses drückt. „Bitte Mischa, warte“. Just in diesem Augenblick hält das Taxi vor dem Eingang des Hotels. Er drückt sie noch einmal an sich, bevor sie aussteigen. An der Rezeption liegt ein Paket für sie. Das müssen die Kleider von zuhause sein, die sie bei ihrer Mutter geordert hat. Merkwürdig nur, dass kein Absender vermerkt ist. Sie klemmt das Paket unter den Arm und folgt ihm in den Aufzug. Die Türe schließt sich langsam. Sie sieht Lust in seinen Augen aufblitzen. Als er sie mit seinem Körper gegen die Spiegelwand drückt, zieht sie das Paket an sich. „Lass mich sehen, was da für mich gekommen ist“. Die Verpackung ist schnell entfernt. Zwischen der dünnen Pappe fischt sie eine Garnitur Spitzenunterwäsche heraus. „Gefällt es dir?“ Sie erinnert sich, am Vortag in seiner Anwesenheit einen Mangel an frischer Unterwäsche erwähnt zu haben. „So war das aber nicht gemeint“. „Aber ich meine das so“. Wie könnte sie diesen Mann je von Notwendigkeiten des Alltages überzeugen? Im achten Stock öffnen sich die Aufzugtüren. Der Schlüssel zu seinem Zimmer klappert in seiner Hand. Ihre Absätze versinken bei jedem Schritt im weichen Teppich des Flures, als sie ihm folgt. Selbst wenn sie wollte, hätte sie keine Chance, diese Nacht in ihrem eigenen Zimmer zu verbringen. Ganz abgesehen von seinem bestimmenden Habitus will sie es nicht einmal.

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