Mittwoch, 10. Mai 2006
Blind spot
Stellen wir uns folgende Situation vor: Eine Frau und ein Mann sitzen sich in der U-Bahn gegenüber. Die Frau bemerkt, dass der Fremde einen Fleck auf der Hose hat. Erst überlegt sie, ob sie einfach wegsehen soll oder was sagen. Sie beschließt, ihn darauf aufmerksam zu machen. Schließlich will sie hilfreich sein und nicht wie alle anderen wegsehen. Sie eröffnet das Gespräch mit Sie haben da einen Fleck auf der Hose. Der Mann wird rot und beginnt sich fürchterlich aufzuregen. Er brüllt sie an Was fällt ihnen ein, mich darauf aufmerksam zu machen? Das ist nicht ihr Bier. Kümmern sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Überhaupt ist da gar kein Fleck. Ich werde sie wegen übler Nachrede verklagen. Die Frau ist ein wenig verduzt, dann dreht sie sich weg und geht.
Was ist geschehen? Der Mann hat Angst. Statt den Fleck anzusehen und sich bei der Frau zu bedanken, beginnt in seinem Kopf ein Verdrängungsprozess. Insgeheim weiß er, dass sie Recht hat, dass da ein Fleck ist und dass er ihn nicht mehr verbergen kann. Doch statt sich das einzugestehen und etwas dagegen zu unternehmen, hat er beschlossen, den Fleck zu ignorieren. Er fühlt sich zu schwach, um den Fleck mit Waschmittel zu bearbeiten oder auch nur die Hose zu wechseln. So trägt er Tag für Tag dieselbe Hose in der Hoffnung, es würde keinem auffallen. Bisher funktionierte das auch ziemlich gut. Die Leute haben weggesehen und er selbst muss ja nur geradeaus schauen, dann sieht er den Fleck auch nicht. Als die Frau ihn darauf anspricht, kann er das Bewußtsein über den Fleck nicht mehr verdrängen. Durch sein Geschrei haben es sogar noch mehr Menschen mitbekommen, die sonst nichts gemerkt hätten. Jetzt beginnt er die Frau zu bekämpfen, anstatt die Ursache. Paradebeispiel für Projektion der eigenen Probleme auf andere.

Passiert übrigens fast jeden Tag. Man muss nur Statistiken lesen zu Nachbarschaftsstreits, Polizeiprotokolle und Gerichtsurteile. Die Menschen haben es versäumt, das Eltern-Ich zu verinnerlichen, weswegen sie es immer wieder im Außen in Form von Polizei, Gesetzen, Gerichtsurteilen etc. suchen. Sie verklagen andere, nur um von sich abzulenken.
Unser Mann von der U-Bahn müsste dazu aber erst mal beweisen, dass da kein Fleck ist. Das dürfte ziemlich schwer werden. Soviel Energie in die falschen Bahnen gelenkt und verschwendet. Angst ist ein ganz schlechter Ratgeber. Vielleicht hätte er die Frau einfach um einen Rat bitten sollen. Sie hätte ihm sicherlich sagen können, wie er am Besten vorgeht, um den Fleck zu entfernen. Gibt ja altes Hausfrauenwissen, das von Generation zu Generation durch Überlieferung in geheimen Waschhausritualen weitergegeben wird. Die Frau in unserem Fall wird nach dieser Reaktion sicher nicht mehr bereit sein, ihre Kenntnisse zu verraten. Was sie jedoch immer wieder tun wird, ist, nicht wegschauen. Sie legt den Finger auf blinde Flecke, weil sie die Menschen mag, wie sie sind. Mit all ihren Flecken. Und weil sie weiß, dass blinde Flecken existieren, auch wenn man sie nicht ständig sehen kann.

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Ähnlich zu diesem Schema hat auch schon mal ein Opfer einer Prügelei vehement sein Recht eingefordert, verprügelt zu werden:
Mann prügelt Frau, Frau heult. Alles auf offener Straße, beide angetrunken. Passant erhebt Einspruch. Mann und Frau solidarisieren sich, gießen (verbalen) Schmutzkübel über Passanten.

Passant schaut trotzdem immer wieder hin.

P.S. Jeder hat seine blinden Flecken, das ist ja das Gute.

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Klar hat die jeder. Es ist auch nicht meine Aufgabe, die Welt zu retten. Aber wenn ich etwas sehe, sage ich, was ich denke. That´s all. Und das lasse ich mir von niemandem verbieten.

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"Und das lasse ich mir von niemandem verbieten."

Und das ist gut so! Ächt!

Meiner Beobachtung nach sind da Frauen tendenziell etwas mutiger.

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Im Allgemeinen weiß ich über das Vorhandensein meiner "Flecken" selbst Bescheid. Ich kann die Frau nicht verstehen, den Mann schon gar nicht.

Man muß sich nicht um alles kümmern, oft gebietet es einfach die Höflichkeit, zu schweigen. Es ist nicht dasselbe, ob meinem Kumpel eine Nudel im Bart hängt oder einem Wildfremden ein Popel aus der Nase.

Es macht auch einen Unterschied, ob z.B. hier auf dem Kiez ein Loddel seinem Pferdchen eine klatscht oder ob ein Penner gerade verreckt, weil keiner der zahlreichen Passanten einen Krankenwagen ruft.

Ich meine, man sollte wissen, wo man besser mal wegsieht und wo man auf keinen Fall wegsehen darf.

Leute, die sich aus Prinzip überall einmischen, nerven.

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Je suis d´accord! Prinzipienreiterei nervt gewaltig. Es gibt vieles, wo man besser wegsieht. Es gibt aber auch Dinge, da sollte man besser hinschauen. Da schauen andere gerne weg, weil es bequemer ist und entschuldigen sich mit "geht mich nix an" und "kann eh nix tun". Hatten wir nicht so ein Beispiel mal in der Geschichte?

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Ja, das hatten wir. Ich denke, wir meinen dasselbe. Nur daß damals das Hinsehen alleine nicht mehr ausreichte. Die Frau, die ich heute noch am meisten verehre, heißt Sophie Scholl.

Es kam nur (vor allem im Kommentar) zuerst etwas komisch an. Danke für die Klarstellung.

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Och, Herr neo-bazi, Sie werden doch jetzt nicht schon wieder andrer Leute Kleider tragen? ;o)
Ich will halt hier nicht so deutlich werden. Dafür darf sich jeder das denken, was er möchte. Der eine versteht´s so und der andere anders. Und alles ist legitim. Ich find´s spannend.

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Mein Ding....
Ich war erst gerade letzthin tierisch froh, dass es noch Menschen gibt, die mich über meine Irrtümer informieren. So kam es, dass ich eine geschlagene halbe Stunde aufrecht und gut gelaunt durch St.Gallen lief. Der Haken an der Sache war, ich trug meinen Pullover mit der Innenseite nach aussen.
Wäre nicht ein netter Herr so frei gewesen und hätte mich darauf hingewiesen. Ich wäre gewiss noch im Zug mit dem verkehrten Pullover gesessen.

Peinlich war mir das ganze, aber ich habe mich darüber gefreut, dass dieser eine Mann von mehreren hunderten Leuten mich auf mein Missgeschick hingewiesen hat. Ein Raster in einer solcher Situation zeugt meiner Sicht nach von einem schweren Problem, das die Person hat die rastet....

liebi grües

Severin

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Irren ist menschlich und passiert mir auch ab und zu. Zum Glück gibt es dann Leute, die mich darauf hinweisen. Bei einem Pullover wäre mir das allerdings nicht so wichtig. Ich tät´s halt zur Kenntnis nehmen.

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Ist es nicht so, dass viel zu viel Menschen zu viel wegschauen und dadurch die Welt immer kälter, gleichgültiger, oberflächlicher und anonymer wird....

Fast jeder geht an jedem vorbei. Wie oft wird man dumm angeschaut, wenn man einfach gutgelaunt und mit einem Lachen im Gesicht durch die Strassen läuft...

Liebe Grüsse
Amarantine

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...hat der keine Frau die "Ihn" begutachtet bevor sie "Ihn" auf die Welt los lässt...lach..

..aber mal im Ernst, ich Denke er hat schon gewusst das er nen Fleck hat und vielleicht war die Frau ja nicht die einzige die Ihn darauf angesprochen hat und vielleicht war er deswegen schon leicht gereizt und die Frau brachte halt das Fass zum überlaufen..vielleicht hat er den Fleck kurz vorher selbst bemerkt und sich innerlich geärgert das er es nicht schon zu Haus bemerkt hat und sich nun deswegen gedanken macht...z.b Murphys Law..er dachte so bei sich fehlt nur noch jemand der mir sagt ich hab nen Fleck...und Bingo..die gute Fee war zur stelle....vielleicht sollte man sich solche gedanken auch als gegenüber mal vorher machen und vielleicht denkt man sich auch, ok ist nen kleiner Fleck, kein Weltuntergang..lassen wir es...weil was macht die Person die an nen Obdachlosen vorbei kommt?...auch sagen...sie haben da nen Fleck...und da und dort?

Ich denke vielleicht die gut gemeinte Hilfe mal vorher abwägen.

Das mal im Kurzen...

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In der U-Bahn hat grundsätzlich derjenige ein Problem, der einen anderen anspricht. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob er ihn ermahnen will oder nur nett auf etwas hinweisen möchte. Ausgenommen sind nur Fragen nach dem Weg oder ähnliches. Insofern zeigt Ihr Beispiel, wie sehr wir in der Öffentlichkeit in Kleingruppen, die zumeist nur aus einer Person bestehen, möglichst unbemerkt nebeneinander aushalten wollen und müssen. Und U-Bahn-Fahrer sind besonders empfindlich, fehlt ihnen doch die schützende mobile Verlängerung des Wohnzimmers, in dem der moderne Mensch meint privat zu sein und alles machen zu dürfen.

Auf der anderen Seite ist Ihr Beispiel aber recht abartig. Sollten doch gerade Frauen mit ihrer emotionalen Intelligenz wissen, daß man geschickterweise mit einer unverfänglichen Frage beginnt und nicht mit einem kurzen Satz die ganze U-Bahn glauben läßt, der Mann habe einen Wichsfleck auf der Hose. Es ist vermessen von jedem derart angesprochenen Mann einen souveränen Umgang mit der Situation zu erwarten. Soll er sich gar freuen, daß eine Frau auf das mit dem Fleck verbundene Signal angesprungen ist?

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Wichsflecken
Herr Wuerg, dass ich sowas von Ihnen mal lesen darf, hätte ich nicht gedacht ;o)
Naja, wenn es kein W.F. war, dann evt. ein Beweis für Abschüttelaversion. Im Übrigen hätte es auch das Nutellabrot vom Morgen sein können, dass auf dem Knie unschöne Abdrücke hinterlassen hat.

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Es ist weniger von Bedeutung, was es für Flecken waren und ob man zur Indentifizierung ein CSI-Taschenmikroskop benötigt, sondern es kommt mehr darauf an, was der angesprochene Mann denkt, was die anderen denken könnten. Und wenn auch ich selbst als Erwachsener in solchen Situationen lange Jahre zu einem roten Kopf neigte, dann nicht wegen direkter Anzüglichkeiten oder Peinlichkeiten, sondern allein wegen der Erinnerung daran, daß dies in der Jugend so war und der andere nunmehr beobachte, ob ich auch nur ansatzweise anlaufe. Frauen können dies unter ihrer Schminke besser verbergen, Ihr Erröten wird poitiver gesehen und Männer nehmen auf sie mehr Rücksicht. Geschlechtsgenossen meines Alters können auch verstehen, daß schnell trocknende Flecken nicht immer auf eine Abschüttelaversion zurückzuführen sind, denn selbst notorische Sitzpinkler mit Abschüttelwahn können im Alter gelegentlich ein kurzzeitiges Nachlaufen nicht verhindern. Sollen sie deshalb alle eine Windel tragen?

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Von der Metapher ins buchstäbliche: Heute morgen in der U-Bahn hätte ich mir gewünscht, die junge Dame, die mich so fasziniert ansah, hätte mir gesagt, daß ich noch Zahnpasta im Gesicht hatte.

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Ins Gesicht hängende Haare, schlecht sitzende Kleidung mit Flecken und allgemeine Hilflosigkeit sollen angeblich Frauen dazu verleiten, ihre Waschmaschine zu zeigen und die Hemden zu bügeln. Doch bei mir funktioniert das nicht.

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Herr Kid, Sie können nicht glauben, dass man Sie als Attraktion attraktiven Mann nicht auch ohne Zahnpasta anstarren könnte? Oder war die Starrerin so ein Schreckgespenst?

Herr Würg, kommen Sie, geben Sie´s zu. Sie wollen das doch nicht anders ;o)

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Ich bin eher fassungsloses Anstarren gewöhnt. Nicht fasziniertes.

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Neue Erfahrungen sind doch prima. Am Anfang vielleicht unangenehm aber mit der Zeit gewöhnt man sich dran. Als PopBlogstar sollten Sie sich langsam auch dran gewöhnen.

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Natürlich, Frau Klugscheisser, doch es funktioniert eben nicht. Neben langen Haaren, dreckigen Hosen und hilflosem Herumstehen vor Automaten fehlt mir noch irgendetwas, das Frauen dazu bringt, mir behilflich sein zu wollen, um später ihre Waschmaschine zeigen können.

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