Mittwoch, 31. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 13
Die Beerdigung wird in Stuttgart stattfinden. Sie ist schon heute mit dem Zug angereist, um die Witwe zu besuchen. Als der Zug in Stuttgart einfuhr, wurde ihr Brustkorb von unsichtbaren Schnüren zusammengezurrt. Sie konnte kaum atmen. Unwillkürlich musste sie an die Passage aus dem Märchen „Der Froschkönig“ denken. Der Prinz fährt mit seiner Auserwählten in einer Kutsche. Da hört er ein Geräusch. „Heinrich, der Wagen bricht“ ruft er seinem Diener zu. „"Nein, Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen...“ Genau so fühlt sich Ihr Herz an, wund und gequetscht, mit dem Unterschied, dass keine überquellende Freude das unsichtbare Band sprengt. Vor der Türe zur kleinen Wohnung ihres Lehrers hält sie inne, atmet noch einmal tief durch bevor sie die Klingel drückt und wartet auf eine Stimme über Sprechanlage. Dieses Mal wird es keine männliche Stimme sein. Die Stimme ihres Mentors klingt in ihrem Kopf. „Du musst die Töne gehen lassen wie Kinder“. Sie ist gekommen, um ihn gehen zu lassen. Eine Frauenstimme tönt über den Lautsprecher. Als sie ihren Namen nennt, surrt der Türöffner. Vor ihr liegen fünf Stockwerke enge Treppen. Die Treppen hielten ihn fit, sagte er, genau wie die hundert Schritte zur Musikhochschule, die er täglich zurücklegte. Schon bald war sie zu einem namhaften Professor nach Köln und später Berlin gewechselt. Die Unterrichtsstunden bei ihm hat sie jedoch nie aufgegeben. Von den anderen Professoren brauchte sie nur die Namen im Lebenslauf, von ihm seine ungeheuer große musikalische Weisheit und sein Einfühlungsvermögen. Selbst als sie bereits international konzertierte, kam sie zu ihm, um mit ihm verschiedene Passagen oder Fingersätze zu diskutieren. In Wirklichkeit wollte sie aber nur ein wenig Heimat bei ihm spüren. Oft saßen sie beim Nachmittagstee mit seiner Frau beisammen. Das alte Porzellan zierte den antiken Tisch. Meist saß er auf dem Sofa unter einem riesigen düsteren Familienportrait seiner Vorfahren. Die kleine Stehlampe erhellte das Eck unter der Dachschräge. Seine Frau trug eifrig Kuchen und Kannen herbei, während sie miteinander redeten oder alten Radiomitschnitten lauschten. Heute wird das hellgrüne Sofa leer bleiben, der Kaffeetisch nur zur Hälfte gedeckt sein.

Vor der Eingangstüre wartet sie, bis sich ihr Atem beruhigt hat, bevor sie klopft. Eine große stattliche Dame in schwarz öffnet die Türe. Sie sehen sich einen langen Augenblick an, bevor die Gattin des Professors zur Seite tritt, um ihr Einlass zu gewähren. Keine der Beiden bringt auch nur ein Wort über die Lippen. Sie umarmen sich kurz, bevor sich die Dame abwendet, um mit einem Taschentuch verstohlen einige Tränen aus den Augenwinkeln zu tupfen. Sie bemerkt, dass die Frau gebückter als sonst geht. Sie war ein wenig größer als er, weswegen sie sich immer kleiner zu machen versuchte. Den Kopf eingezogen zwischen schlaffen Schultern biegt sie nach links in die Küche ein, während sie selbst im Tee- und Musikzimmer auf dem Sessel Platz nimmt. Während ihr Tee eingeschenkt wird, bemerkt sie das Zittern. „Darf ich?“ Mit diesen Worten nimmt sie die Teekanne an sich und schenkt ein. Die unerträgliche Stille ist gebrochen. Die Frau des Lehrers sinkt in den linken Sessel. „Es ist nicht dasselbe, nicht wahr?“ „Nein, es wird nie mehr so sein. Aber ich möchte Ihnen sagen, dass ich gerne gekommen bin.“ Die kleine Lüge lässt ihre Wangen erröten. Unter solchen Umständen sieht wohl kein Mensch freudig einem Besuch entgegen. Die Atmosphäre ist ein wenig steif, wie immer. Sie hat das Ehepaar immer gesiezt, während sie die Beiden duzten. Außerdem wurde im Hause des Professors streng auf Einhaltung von Etiketten geachtet. Als Kind und Jugendliche empfand sie es als ein wenig künstlich, später genoss sie diesen Habitus, weil er für sie etwas ganz Besonderes darstellte. Sobald sich die Wohnungstüre hinter ihr schloss, befand sie sich in einer ganz eigenen Welt. Gerade heute stellt dieses gezierte Verhalten ein Gefühl von Kontinuität her. Der Mentor ist gegangen aber mit seiner Gattin wird ein kleines Stück von ihm weiterleben. Was wird geschehen, wenn es niemanden mehr gibt, dessen Gedanken und Tun von ihm beeinflusst wurde und in dessen Erinnerung ein Mensch weiterleben kann? Dann ist der Mensch wirklich gestorben. Erst stockend, dann ein wenig flüssiger beginnt die Professorengattin aus ihrer Erinnerung zu berichten. Sie erzählt von seinem plötzlichen Tod, den letzten gemeinsamen Stunden und geht allmählich immer weiter zurück bis zum ersten Kennenlernen. Einmal schmunzelt sie, als sie seine Umwerbungsversuche schildert, dann lacht sie laut, beim Bericht eines Missgeschickes während er um ihre Hand anhielt. Das Lachen bricht jäh ab, wechselt in lautes Schluchzen, um den Tränen freien Lauf zu lassen. Die Frau ist wieder in der Gegenwart angekommen. Im Grunde weiß sie nicht so recht, was sie tun oder sagen soll. Sie steht auf, geht hinüber zu der Dame und legt ihr die Hand auf eine der bebenden Schultern. Eigene Tränen laufen ihr über die Wangen, bilden am Kiefer Tropfen und fallen lautlos zu Boden. Es gibt nichts, was sie sagen oder tun könnte, um das Leid dieser Frau zu lindern. Das ist die eigentliche Grausamkeit im Leben. Nicht der Tod, sondern die unendliche existentielle Einsamkeit, die allem Menschsein innewohnt. Sie spürt die Hand der Lehrergattin auf der ihren. Zugleich hat sie selbst das Gefühl, nicht mehr schlucken zu können. Alles will nach draußen. Sie muss von hier weg, muss in die Luft unter freiem Himmel. Mit knappen Worten verabschiedet sie sich, um die Wohnung überstürzt zu verlassen. Man sieht sich morgen auf der Beisetzung am Waldfriedhof.

Der Hoppenlaufriedhof wäre viel angemessener gewesen, doch finden dort zwischen berühmten Gräbern keine Beisetzungen mehr statt. Ganz in der Nähe des städtischen Konzertgebäudes, der Liederhalle, hätte er in der Nähe seiner Wirkungsstätte ruhen können. Immerhin wurde der Tenor Wolfgang Windgassen einst ebenfalls auf dem Waldfriedhof begraben. Es dämmert bereits, als sie sich auf den Weg zum Teehaus macht. Von dort hat man abends einen wunderbaren Blick über die Stadt. Dieser Ort war immer ein wenig Zuflucht für sie. Spät nachts halten sich hier vereinzelte Liebespaare oder einsame Gestalten wie sie selbst auf. Die Plattform ist nicht beleuchtet, weswegen man dort trotzdem ungestört seinen Gedanken nachhängen kann. Mit der Straßenbahn fährt sie vom Charlottenplatz über die Weinsteige in Richtung Weissenburgpark. Von einer kleinen Parkbucht führt eine lange Treppe nach oben. Bald wird sie in ihrer Erinnerung angekommen sein.

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Wunderbar eingefühlt. Sehr echt.

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Vielen Dank. Wissen Sie, die Geschichte hat einen wahren Hintergrund. Seit zwei Jahren mache ich mir Gedanken, was sein wird, wenn mein Professor stirbt. Die Szene in der Stuttgarter Wohnung ist aus meiner Erinnerung nacherzählt. Ich hoffe allerdings, dass ich ihn vorher noch einmal sehen kann.

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Bestätigung einer Vermutung. Danke.

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Warum sagt mir denn keiner, dass ich mich verlaufen hätte, wäre ich mit der Straßenbahn bis Degerloch gefahren?

Ist schon lang her das letzte Mal.

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